Mein Stern

Mein Name ist Zahra. Im Afghanischen bedeutet dieser Vorname “Sonnenaufgang”. Das passt sehr gut, denn ich war schon als Kind eine Frühaufsteherin. Wie gerne ich mich an meine Kindheit erinnere...

 

Meistens war ich die erste, die in der Früh die Tür unseres Steinhauses öffnete und den Duft der Wiesen und Felder ins Haus ließ. Die Vögel sangen bereits fröhlich ihre Lieder. Ich lief zum Stall, um die Hühner und Gänse zu füttern und mit meinen gefiederten Freunden ein paar Worte, Geschnatter und Gegacker zu wechseln. In diesem Haus, in dem kleinen Dorf in der Nähe von Kunduz in Afghanistan, lebte ich mit meiner Familie. Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben.

 

Bis mein Papa starb. Da war ich zehn Jahre alt. Ich wusste nicht warum, und ich konnte nicht verstehen, wie es überhaupt möglich sein sollte, ohne Vater zu leben. Doch die Zeit ging ohne ihn einfach weiter.

 

Ich war elf Jahre alt und trug am liebsten die Hosen meiner jüngeren Brüder, um darin über die Wiesen zu rennen wie der Wind. Hätte mein langes schwarzes Haar mich nicht verraten, vielleicht wäre ich als Junge durchgegangen.

 

Mit etwa dreizehn Jahren fiel mir immer mehr auf, dass Jungen mehr durften und überhaupt freier waren. Ich trug weiter die Hosen meiner Brüder. Eines Tages sagte meine Mutter, ich solle mich wie ein gutes Mädchen anziehen. Wir bekamen Besuch. Da war ein älterer Mann mit einer älteren Frau und deren Sohn, ein junger Mann, der die ganze Zeit auf den Boden starrte. Die Eltern redeten mit meiner Mutter. Und irgendwann schauten sie mich an, alle drei, besonders die beiden Männer. Der alte Mann hatte warme Augen. Ich lächelte sie an. In dem Moment war mir nicht klar, dass dieses Lächeln mein Einverständnis in eine Verlobung war. Und was genau das bedeutete, erfuhr ich wenige Jahre später.

 

Mit sechzehn Jahren musste ich heiraten. Ich konnte nicht verstehen, dass meine Mutter mich weggeschickt hat. Aber ich wollte trotzdem ein gutes Mädchen sein und mein bestes tun. Ich zog also in das Haus des Mannes mit den warmen Augen, dessen Sohn jetzt mein Ehemann war. Die Männer in der Familie waren alle Freiheitskämpfer und das war zu der Zeit in Afghanistan extrem gefährlich. Die Taliban kamen näher, umzingelten das Dorf, und Freiheitskämpfer waren natürlich die ersten auf ihrer Liste, die beseitigt werden mussten.

 

Mein Mann wurde oft wütend und ich wusste nicht warum. Er stritt sich auch mit Dorfbewohnern und einmal kam er mit einer blutenden Armverletzung nach Hause. Manchmal, wenn er mir gegenüber grob wurde, hat sein Vater ihn davon abgehalten mich zu verletzen. Ich war schwanger und ging zur Schule. Da ich zuvor nur wenig Gelegenheit hatte, eine Schule zu besuchen, ließ ich es mir nicht nehmen jeden Tag hinzugehen. Obwohl meine Mitschüler mich oft angeschrien haben: “Dein Mann ist schlecht! Du musst auch schlecht sein, wenn du zu ihm gehörst!”

 

Mit siebzehn Jahren hatte ich meinen ersten Sohn geboren. Und die Familie meines Mannes wurde von den Taliban bedroht. Nachts konnte ich oft nicht schlafen. Ich hörte immer nach der Tür. Was, wenn sie jemand öffnet und herein kommt und uns allen etwas antut?

 

Die Situation und die Angst wurden schlimmer. Wir entschieden uns, die Heimat zu verlassen. Mein Mann, mein Sohn, ich, und ein zweites Kind im Bauch. Das war im Frühling des Jahres 2016. Wir reisten durch den Iran und Griechenland, bis wir nach einem Monat in Deutschland ankamen. Ich werde das Datum nie vergessen, der 14.04.2016. An diesem Tag fielen Ängste und Sorgen von mir ab wie ein Schleier aus einer alten Zeit. Ich konnte mich zum ersten Mal seit langem entspannen.

 

Das Deutsch lernen fiel mir schwer. In Afghanistan konnte ich nur wenige Jahre die Schule besuchen, so war mein Bildungsstand nicht vergleichbar mit vielen anderen Menschen, die hier sind. Manchmal beneidete ich meine eigenen Kinder. Wie schnell sie diese Sprache lernen! Könnte ich doch auch noch einmal sieben Jahre alt sein und eingeschult werden... Aber Jammern hilft nicht. Also lerne ich, wenn immer es möglich ist. Jetzt spreche und verstehe ich schon ganz gut. Aber das Schreiben fällt mir immer noch wahnsinnig schwer.

 

Da gab es noch etwas, das mich sehr verwirrte. In Deutschland heißt “ein gutes Mädchen” oder “eine gute Frau” zu sein nicht, dass man das tut, was andere von einem wünschen. Nicht einmal, wenn es der eigene Mann ist, oder der Vater oder die Mutter! Ich lernte also mühsam das “Nein sagen dürfen”.

 

So kam über die Jahre eins zum anderen. Mein Mann war immer noch unberechenbar in seiner Wut. Eines Tages ging er mit einem Messer auf mich los. Emotional pendelte ich zwischen zwei Welten, die mir ganz Gegensätzliches zuflüsterten:

Die Familie gehört zusammen!

 

Oder: Du bist wichtig! Und dein Glück!

Eine Frau hat ihrem Mann zu gehorchen.

Oder: Frau und Mann sind gleichberechtigt!

 

Ich habe lange gebraucht, und als Mutter von mittlerweile drei Kindern ist es nicht einfach, aber ich habe es geschafft: Ich habe mich von meinem Mann getrennt. Und jetzt gibt es etwas, das ich damals, als Kind, nicht verstehen konnte: Es ist möglich ohne Papa aufzuwachsen. Und manchmal ist es notwendig.

 

Dies ist meine neue Welt. Sie bringt mir die Sonne zurück. Ich treibe Sport, ich kümmere mich um meine Gesundheit, gehe mit den Kindern in die Natur, plane einen Urlaub... ich bin frei! Denn ich habe gelernt, dass ich Nein sagen kann.

Nun schaue ich diesen kleinen Keramik-Engel an, der in meiner Hand liegt. Er sieht aus wie ein fröhliches Mädchen, das einen Stern in seinen Händen hält. Vielleicht hat das Mädchen sein Ziel erreicht. Vielleicht hat sie ihren Stern bekommen. Mein Stern wartet auch auf mich, ich bin mir sicher, bald werde ich ihn zwischen meinen Händen halten.

 

Aufgeschrieben im April 2022 von Kristine Tauch


Aus dem Keller ins Paradies

“Njouuuuu ... rattattattattattatta ... njouuuuuuuu ...” Afghanistan. 1977. Eine Grundschule in Kabul. Die Erstklässlerin Fatma schaut zur Decke ihres Klassenzimmers, so als könne sie dort eine Erklärung für diese unbekannten Geräusche finden. Alle Kinder sind unruhig und blicken den Lehrer fragend an, der wie erstarrt zu sein scheint. Dann öffnet er seinen Mund und ruft: “Gefahr! Versteckt euch!” Gleich darauf springt er auf, öffnet die Tür zum Pausenhof und läuft davon.

 

Fatma, das bin ich. Heute lebe ich mit meiner Familie in Wiesbaden und besuche regelmäßig die Angebote von frauenwelten e.V.

Es geht mir gut an diesem friedlichen Ort.

 

An jenem Tag in der Schule habe ich zum ersten Mal erfahren, was das Wort “Gefahr” bedeutet. Wie die anderen Kinder rannte ich über den Schulhof auf die Straße. Von oben hörte ich weiter diese furchtbaren Geräusche der Bomben und Raketen. Und die lauten Stimmen von Männern in einer fremden Sprachen dröhnten um mich herum. Ich hatte nur ein Wort im Kopf: Mama! Und Mama hatte mir immer gesagt, dass ich nur über die Hauptstraße zur Schule und nach Hause gehen darf. Also lief ich Richtung Hauptstraße.

 

Plötzlich hörte ich eine Männerstimme, die meinen Namen rief. Aber wer konnte das sein? Mein Vater war nicht in der Stadt. “Fatma, bleib stehen!”, rief er immer wieder. Dann packte mich eine große Hand an der Schulter und brachte mich zum Stehen. Ich drehte mich um und sah hoch in das Gesicht eines Onkels. “Komm mit, Fatma”, sagte er, “Ich bringe dich nach Hause.” Ich schüttelte verängstigt den Kopf. “Komm schon, deine Mutter hat mich geschickt.” Ich blickte ihn an und merkte, wie er mich in eine andere Richtung ziehen wollte, weg von der Hauptstraße. Darum schrie ich ihn an: “Nein! Ich laufe alleine nach Hause!” Der Onkel schien verzweifelt, er sprach mit einem anderen jungen Mann, der dann wegrannte. “Okay, Fatma, deine Mutter kommt hierher. Geh nicht weiter”, meinte er eindringlich zu mir. Und tatsächlich kam meine Mutter. Sie nahm meine Hand und zog mich mit sich, immer dem Onkel hinterher, durch unbekannte Straßen, über sehr kleine Wege, die ich noch nie betreten hatte, bis wir zuhause waren. Auf der Hauptstraße wäre ich vermutlich unweigerlich in ein Raketenfeuer geraten.

 

Elf Jahre später. Mein Vater war längst wieder bei uns. In all diesen Jahren hatte niemals wieder jemand das Wort “Gefahr” gerufen, wie der Lehrer damals. Trotzdem war stets um uns herum Gefahr zu spüren. Immer wieder wurden Menschen von den Taliban getötet, meist in ihren eigenen Häusern und im Angesicht ihrer Familien. Mal mit einem Pistolenschuss, mal wurden sie mit einem Messer geköpft. Einfach abgeschlachtet, wie Vieh. Der Regierung konnte man auch nicht recht trauen. Nicht selten hörte man von jungen Männern, die einfach verschwanden. Vor wem sie sich versteckten oder von wem sie “weggeschafft” wurden, bleibt in vielen Fällen ein Rätsel. Mein Vater arbeitete beim Militär. Er wusste, was dort vor sich ging, und er erfuhr manchmal auch von geplanten Morden. Einigen Menschen konnte er so das Leben retten. Vielleicht haben seine guten Taten später ihm und seiner Familie das Leben gerettet...

 

Eines Tages sammelte meine Mutter Geld zusammen. “Für Glühbirnen für den Keller”, sagte sie. “Wozu brauchen wir im Keller Glühbirnen?”, wunderte ich mich. Meine Mutter atmete schwer und versuchte mir zu erklären, dass es im Keller sicherer sein wird für uns. Ich erfuhr kurze Zeit später, worauf sie uns vorbereitet hatte.

 

In den Jahren 1988 und 1989 verbrachten wir fast jede einzelne Nacht im Keller. Und das war kein schöner ausgebauter Aufenthaltsraum. Es war eher eine Höhle, in der Erwachsene nicht aufrecht stehen können. Der Boden war nass, das Wasser stand uns meist bis zu den Knöcheln. Und dunkel war es auch bald wieder, denn die Glühbirnen wurden nach kürzester Zeit von Dieben geklaut. Dort hockten wir, also meine Familie, und zwei Nachbarsfamilien, die auf unserem Grundstück zur Miete wohnten, Nacht um Nacht, wenn wieder Bomben auf die Stadt fielen.

 

Im August 1989 schmiedeten wir den Fluchtplan. Niemand wurde eingeweiht, außer meiner Mutter, meiner Tante, meinem Vater, einem Helfer, der ein Freund meines Vaters war, und mir. Zu diesem Zeitpunkt war ich 18 Jahre alt und meine Geschwister waren noch klein.

Mein Vater fuhr auf “Besuch” nach Russland. Auch wenn es ständig Stromausfälle in Kabul gab, so funktionierten die Telefonleitungen wenigstens stabil. So konnten wir Kontakt zu unserem “Helfer” halten. Ohne ihn hätten wir nicht gewusst, was wir tun sollen. Er sagte meiner Mutter, für welchen Tag unser Flug gebucht war und wir hielten uns bereit. Wir, das waren meine Mutter und ich, die kleinen Geschwister wussten ja nichts. Und meine Schwiegereltern kamen mit uns. Ihr Sohn, mein Verlobter, lebte zu der Zeit in Deutschland. Die Schwiegereltern wollten ihre Heimat nicht verlassen, doch wir redeten ihnen zu, mit uns zu kommen. Hier in Kabul war uns allen nur eines sicher: der Tod.

 

Der Tag war gekommen. Um 14 Uhr sollten wir am Flughafen sein. Um 11 Uhr klingelte das Telefon. Mein kleiner Bruder ging dran.

“Ja, mein Papa, ist weg.”

“Nein, er kommt wieder! Heute!”

“Morgen holen wir ihn um 14 Uhr vom Flughafen ab, hat Mama gesagt” “ja, gut.”

Dann rief mein Bruder nach mir, weil Mama noch Besorgungen machte und gerade nicht im Haus war. Ich nahm zitternd den Telefonhörer und riss mich zusammen. Meine Stimme war ganz klar, ich durfte jetzt bloß nicht auffallen. Der Mann am anderen Ende stellte sich als Mitarbeiter meines Vaters vor. Er fragte mich, ob es stimmt, dass Papa heute am Flughafen ankommt und ich sagte ja, wir würden ihn gleich abholen. “Bleiben Sie nur zuhause”, sagte der Mann. “Wir kümmern uns. Wir holen ihn ab, keine Sorge.”

“Okay, danke”, antwortete ich und hängte auf. Als meine Mutter zurück war, riefen wir sofort unseren Helfer an. Er beruhigte uns ein wenig. Wir fuhren los und passierten tatsächlich pünktlich die Flughafenkontrollen - alle zusammen. Jetzt konnten wir es kaum erwarten, endlich in die Luft zu steigen. Die Stadt der Angst unter und hinter uns zu lassen.

 

In Russland nahmen wir einen Transitflug in die damalige Tschechoslowakei. Wir hatten alle Touristenvisa. In Prag gelandet, ließ man uns dennoch nicht passieren. Wir mussten Geld zahlen, jede Person eine nicht geringe Summe, um den Flughafen zu verlassen. Wir gaben den Beamten fast komplett unser letztes Geld. Aus der nächsten Telefonzelle riefen wir meinen Onkel in Deutschland an. “Wir sind in Prag. Am Flughafen.” Fahrt zum Hauptbahnhof”, sagte er. Es war Anfang Dezember und sehr kalt. Am Prager Hauptbahnhof breiteten wir eine Decke aus und setzten uns auf den Boden. Menschen gingen langsamer, wenn sie uns sahen und schauten uns neugierig an. Einige Touristen holten sogar ihre Kameras raus und fotografierten uns. Plötzlich rief mein kleiner Bruder mir zu: “Ich habe Papa gesehen!” Und er zeigte in eine Richtung. Ich schüttelte den Kopf. “Das kann nicht sein.” Keiner von uns glaubte ihm. Doch dann stand er wirklich vor uns! Wir fielen ihm alle nacheinander in die Arme, lachten und weinten gleichzeitig. Es war wie ein Fest der Freude, das unsere Herzen aufflammen ließ, in dieser unbekannten Welt, am eiskalten Prager Bahnhof.

 

Später erfuhren wir, dass mein Vater kurz nachdem wir mit dem Onkel telefoniert hatten auch bei ihm anrief, denn er war aus Russland unterwegs in die Tschechoslowakei. So wusste er, dass wir am Bahnhof sind, und da waren wir ja auch nicht zu übersehen.

Mein Onkel hatte drei Autos organisiert, mit denen wir Stunden später abgeholt wurden. Wir rollten immer näher an die Landesgrenze und die Angst wuchs, denn mein Vater hatte kein Touristenvisum wie wir. Was, wenn sie uns zurück schickten? Das wäre ein Direktflug in die Hölle. Doch wir hatten Glück. In dem Moment als unsere Papiere von den tschechoslowakischen Zollbeamten kontrolliert wurden, wurde neben uns in einem Transporter eine Ladung Kokain entdeckt. Da winkte man uns durch, es gab Wichtigeres zu tun.

 

Die deutsche Grenzpolizei brachte uns in ein Asylantenheim in Bayern. Als ich den Blick in die bergige weiße Schneelandschaft vor unserem Heim wahrnahm, da wusste ich, wir sind angekommen. Bomben und Geschrei und Chaos lagen weit hinter uns. Ich werde nie vergessen, wie meine Mutter unsere Tante anrief. “Wir sind angekommen!”, rief sie aus. “Wo?”, fragte die Tante nach. “Im Paradies”, meinte Mama. Und die Tante bemerkte: “Was, so schnell?” “Ja”, sagte Mama weinend vor Glück, “direkt vom Keller ins Paradies.”

 

Zehn Jahre später. Ich lebte mit meinem Mann und meinen zwei Söhnen in Wiesbaden und wir waren glücklich. Wir hatten Verwandtschaft in der Nähe und verbrachten eine fröhliche Zeit. Das Leben in Deutschland war wirklich schön für mich. Doch dann überkam mich eine Traurigkeit, die ich nicht verstand. Ich konnte meinen Körper nicht mehr kontrollieren und zitterte in allen Gliedern. Es hörte nicht auf, sondern wurde von Tag zu Tag schlimmer. Manchmal bekam ich einen Anfall mitten auf der Straße und war nicht mehr fähig mich selbst zu bewegen. Mein ganzer Körper bebte und ich fühlte mich absolut ohnmächtig. Ich erlebte eine Jahrelange Tortur, in der Ärzte mir Medikamente verschrieben, die wenig wirkten, oder das Zittern sogar noch verstärkten. Dann kam die Diagnose: Parkinson.

 

Nach über zehn Jahren der Ungewissheit und schwerer Krankheit vermittelte meine Hausärztin, Dr. Claudia Müller-Said-Sadah, mich in eine Klinik, in der ihre Mutter arbeitete. Diese holte Professor B. aus der Klinik zu Rate. Er untersuchte mich und griff noch während der Untersuchung zum Telefon. Er schickte mich in die Uniklinik Düsseldorf, wo ich intensiv behandelt wurde. Endlich besserte sich mein Zustand.

 

Heute bin ich mir sicher, dass ich diese Krankheit aus der Hölle in Afghanistan, in der ich in ständiger Angst lebte, mitgebracht hatte. Nach einer Woche in Düsseldorf war ich wieder zurück ins Paradies gekommen. Was man für mich getan hat, das ist mit Geld nicht zu bezahlen. Die Dankbarkeit spricht mir jeden Tag aus dem Herzen. Ich hoffe, dass ich, wenn ich eines Tages sterbe, zum dritten Mal ins Paradies gelangen werde.

Fatma Said-Sadah

 

Aufgeschrieben im April 2022 von Kristine Tauch


Zu der Bilder der Heilung Juni 2022

Sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater waren intellektuelle Menschen, mit höherem Bildungsgrad. Beide haben gearbeitet.

Die Kinder - Marjam und Ihr Bruder - haben mit großem Interesse die Schule besucht.

 

Marjam war 7 Jahre alt, als die Russen in Afghanistan verlassen haben.. Zu dieser Zeit regierte der letzte Kanzler Najib.

1992 kamen die Mudschahedin, um die Regierung zu stürzen und gegen die Russen zu kämpfen. Es kam zu einem Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Mudschahedin.

 

„Eines Tages beim Essen kamen Geschosse aus Raketen und Granaten und einige Menschen wurden verletzt. Danach konnten wir uns nur noch im Keller aufhalten. Zu den Toiletten sind wir mit Angst hochgelaufen. Im Radio wurde gesagt, dass alle Bewohner bestimmter Stadtteile ihre Häuser verlassen müssen und in andere Stadtteile ziehen müssen. Dazu gab es einige Stunden Schuss-Pause und wir mussten unsere Häuser verlassen. Meine Eltern packten eilig und voller Angst alle Kinder und die notwendigen Sachen. Dann mussten wir zu Fuß einige Kilometer gehen, denn viele Straßen waren gesperrt und Zivile durften keine Autos benutzen. Auf dem Weg haben wir Schreckliches erleben müssen. Wir alle haben mit eigenen Augen Leichen, angeschossene Menschen, Beine, Arme, Köpfe,...gesehen. Unsere Eltern haben versucht, uns abzulenken oder uns die Augen zugehalten. Ich habe eine schreckliche Angst gehabt.

 

Als wir nach einigen Kilometern (mit einem Bus) eine Verwandte im Stadtteil Makroyan erreicht hatten, habe ich in der Nacht starkes Fieber

bekommen. Am nächsten Tag konnte ich nicht sprechen. Ich war erstarrt und sprachlos. Es hat einige Tage gedauert, bis ich angefangen habe zu sprechen. Allerdings stotterte ich von nun an. Wir haben die Zeit überlebt, mal in dem einen Stadtteil, mal in einem

anderen.

 

Nach den Mudschahedin kamen 1995 die Taliban an die Macht. Von da an war es ruhig. Aber alle Schulen für Mädchen wurden geschlossen. Mädchen und Frauen durften nicht ohne Burka und entsprechende Bekleidung rausgehen. Inzwischen war ich 10 Jahre alt und eigentlich in der 4. Klasse. Als der Taliban herrschte, ging mein Bruder zu Schule und ich habe gewartet bis er kommt und er mir zeigt, was er gelernt hat. Meine Eltern haben mich auch unterstützt und den Unterrichtsstoff mit mir gelernt. Aber mir ging es nicht gut dabei. Damals konnte ich es mir nicht erklären, heute weiß ich warum es mir so schwerfiel. Meine Eltern haben mich heimlich in einem privaten Kurs angemeldet. Dort konnte ich die Schule weitermachen. Es waren ehemalige Lehrerinnen, die in ihren eigenen Häusern Kurse angeboten haben. Es war sehr gefährlich. Die Taliban durften es unter keinen Umständen erfahren. Viele haben sich trotzdem getraut solche Angebote zu machen. Aber es war nicht wie in einer normalen Schule.

 

Eines Tages wurde ich mit meinem Bruder von Taliban kontrolliert. Ich sollte mit zehn Jahren eine Burka tragen. Mein Bruder wurde vor

meinen Augen blutig geschlagen. Ich habe große Ängste und Schuldgefühle bekommen. Das war mein letzter Tag.

Ich habe danach nie wieder das Haus verlassen. 

 

Als die Taliban von den Amerikanern niedergeschlagen waren, kam ein neues Regime an die Macht (Karzei). Es gab wieder Freiheit und

Möglichkeiten für Mädchen und Frauen. Ich habe zuhause soweit mit meinen Eltern gelernt, dass ich nun direkt in die 7. Klasse gehen konnte. Es war nie wieder wie früher. Ich habe immer noch gestottert. Die Lehrerinnen und die Klassenkameraden haben mich nicht verstanden. Es wurde gesagt, ich sei faul und deswegen gebe ich es nur vor, dass ich nicht reden kann. Ich war mit meinen Problemen allein. Schriftlich ging es noch, aber es war wichtig mündlich fit zu sein. Es gab in Kabul kreative Kurse für Mädchen. Meine Mutter hat mich für einen Mal-Kurs angemeldet . Als ich mich dort einige Wochen intensiv beschäftigt hatte, habe ich gemerkt, dass sich bei mir etwas auflösen möchte. Jeden Tag konnte ich besser und schöner malen. Ich war sehr motiviert weiterzumachen. Der Kursleiter war sehr beeindruckt von meinen Bildern. Eines Tages kam der Kursleiter zu mir und sagte, wir sind vom Fernsehen eingeladen worden. Er fragte, ob

ich mit einigen Bildern bei diesem Fernsehauftritt mitmachen möchte. Ich habe vor Freude geschrien und zugesagt. Der Kurs und der Auftritt waren ein wichtiger Durchbruch für mich. In der Schule wurde ich von nun an besser. Ich war im Fernsehen und meine Lehrerinnen und Schulkameraden haben die Sendung gesehen. Am nächsten Tag erhielt ich große Anerkennung und Lob wurde mir ausgesprochen. Eine Lehrerin, die mich nicht verstanden hat, hat mir gesagt, ich solle bei weiteren Auftritten doch auch die Schule erwähnen. Das hat mich

verletzt, weil die Lehrerin nur an sich gedacht hat. 

 

Nach der Schulzeit habe ich ein kreatives Berufsfeld studiert und in Richtung Dokumentarfilm gearbeitet. Es gab ein Weiterbildungsangebot für kreative Fachleute der Filmbranche in Frankreich. Ich wurde aus 229 Bewerbungen ausgewählt und durfte nach Paris, um dort einen

Dokumentarfilm zu machen. Es war für mich der Anfang meiner Karriere. Von Frankreich bin ich zurück nach Kabul gegangen. Ich habe geheiratet und wurde Mutter.

 

Zunehmend kam es in Kabul zu Selbstmord-Attentaten. Wir waren oft bedroht von Taliban. Trotz verschiedener Ortswechsel und anderen Maßnahmen wurden wir weiter bedroht. Dokumentarfilme machen war für die Taliban eine Bedrohung. Es wurde sehr

gefährlich, wir mussten die Heimat verlassen.

 

Ich bin nun seit 8 Jahren ein Flüchtling. Erst haben wir versucht in Frankreich zu bleiben. Dann haben wir uns entschieden zu unserer Verwandtschaft nach Deutschland zu ziehen. Ich habe meine Heimat, einen Großteil meiner Familie, meinen Beruf, meine Freundin, meine Zukunft, meine Wünsche für mich und mein Land verlassen müssen. Das tut weeeeehhhh. Ich habe all meinen Selbstwert verloren. Ich

habe mehrere psychosomatische Beschwerden. (Vor 6 Jahren habe ich mein zweites Kind bekommen.)

 

Mein Weg zu und meine Erfahrungen mit Frauenwelten und Frau Roohani:

Ich habe Frauenwelten im Jahr 2017 kennengelernt . Ich habe das Gefühl gehabt, hier kann ich über meine Probleme und Sonstiges sprechen. Es war eine große Erleichterung für mich und viele andere afghanische Frauen. Hier konnte ich mich gleich mit mehreren Frauen in der gleichen Sprache über gleiche Erlebnisse austauschen. Nach mehreren Gesprächen mit Frau Roohani, habe ich mein Bedürfnis, dass

ich eine Beschäftigung benötige, geäußert. Sie hat mir das Assistieren bei dem Projekt „Ausdrucksmalen“ vorgeschlagen. So habe ich 2018 und 2019 einmal wöchentlich in dem Projekt assistiert. Ich habe selbst wieder angefangen zu malen. Ich habe etwas Verlorenes wiedergefunden. Gleichzeitig habe ich zu allen anderen Gelegenheiten fotografiert. Ich wurde festes Mitglied des Vereins. Es gab immer wieder Angebote wie Autogenes Training, Yoga, Meditation, Ausflüge, interkulturelle Veranstaltung,... ich war an vielen Projekten

und Angeboten beteiligt. Ich habe einiges an Selbstwert wieder erlangen können.

 

Trotz allem habe ich die Erlebnisse nicht gründlich verarbeiten können. Der Stress hier in einer bestimmten Zeit die Sprache zu lernen,

gleichzeitig Kinder, Familie und den Integrationsprozess zu bewältigen, war für mich sehr schwer. Trotz einiger Erfahrung und Erleichterung

fühlte ich mich nicht in meiner Kraft. Im Dezember 2021 gab es einen Informationsabend zu dem Projekt „Heldenreise“. Ich habe mich direkt für das Projekt angemeldet und von Dezember 2021 bis Juli 2022 teilgenommen. In dem angestoßenen Prozess konnte ich mich öffnen und zum ersten Mal meine Geschichte erzählen. Die Geschichte, die Sie gerade lesen. Das bedeutet nicht, dass ich geheilt bin. Ich befinde mich immer noch in einem Prozess. Aber ich glaube wieder daran, mich selbst entdecken zu

können. 

 

Mir ist bewusst, dass ich durch meine Traumata und die Flucht nicht mehr der Mensch bin, der ich in den guten Zeiten meines Lebens war. Mir ist auch bewusst, dass ich durch langjährige Therapien wieder vollkommen geheilt werden kann. Ich möchte durch meine Kreativität wieder zu meiner Energie, meinem Potential finden und ein Vorbild werden, für viele andere Geflüchtete und traumatisierte Frauen. Ich möchte solche Projekte unterstützen, die in der Lage sind Menschen

zu befähigen, ihr wahres Potential leben zu können.